Darf ein Bösendorfer-Klavier unreine Saiten haben?

Klavierspieler sind in der Regel musiksensible Menschen. Wer seine Leidenschaft über eine Studium der Musik vertieft, um anschließend als Profi zu arbeiten, der kennt und schätzt die Leistungen einer Premiummarke. Wem ein Flügel in der Wohnung zu laut ist, der zieht das alternativ angebotene Klavier vor. Doch hier ist genau genommen bei allen echten Premiumherstellern Vorsicht geboten. Denn wirklich Premium ist vor allem der Flügel. Wer sich also bei einem Flügelhersteller ein Klavier bestellt, der kann keine identische Leistung erwarten, selbst wenn das Modell die Bezeichnung Konzertklavier trägt. Das liegt zum einen daran, dass der Flügelproduzent viel Erfahrung mit der Herstellung von Flügeln aller Größen hat. Aber die Klaviere dienen häufig nur dazu, die Produktion auszulasten. Zum anderen kann man keine Überraschungen erwarten. Denn mit einem Klavier im Angebot, das ein dem Flügel vergleichbares Leistungsspektrum aufweist, würden diese Unternehmen ihr Geschäftsmodell des lukrativen Flügelbaus angreifen. Das kann kein Kunde erwarten! Oder doch?

Meiner Ansicht ist die Zeit längst reif für ein vollwertiges akustisches Klavier. Dabei handelt es sich um ein Piano mit einem ausreichend großen Klangkörper. Mit der Höhe des Klaviers verbunden ist die Länge der Saiten. Wie uns der rund 3 m lange Konzertflügel zeigt, ist die Saitenlänge vor allem im Bass ein wichtiger Qualitätsfaktor für den guten Klang sowie für die gute Stimmbarkeit des Instruments. Selbstverständlich braucht so ein Superklavier eine zum Flügel identische Repetitionsmechanik, wie sie in USA von Fandrich erfunden worden ist. Darüber hinaus erwarte ich von einem zeitgemäßen Piano, dass es einwandfrei stimmbar ist. Das Wissen über die verschiedenen Bauweisen sowie über die Bedeutung des entsprechend hochwertigen Saitenmaterials ist vorhanden. Warum sollte man sich also mit weniger begnügen?

Bei dem Instrument aus unserem Hörbeispiel handelt es sich um eine 130 cm hohes Klavier der Premiummarke Bösendorfer. Laut der Seriennummer wurde es 2002 gebaut. Die Verstimmung ist beim ersten Hinhören nicht dramatisch. Doch das ändert sich von Stück zu Stück vor allem bei einem entsprechend geschulten professionellem Gehör. Hören Sie selbst:

Bösendorfer-Klavier verstimmt

Der letzte Stimmer konnte die Aufgabe nicht zur Zufriedenheit der Klavierbesitzerin lösen. Sie machte sich auf die Suche nach einer Alternative und daher bekam die überregionale Klavierstimmerei Praeludio® eine Chance, es besser zu machen:

Bösendorfer-Klavier gestimmt

Das Klavier wurde in Rücksprache mit der Klavierspielerin von 436 auf 440 Hertz höher gestimmt. Wenn man nun die Stimmungen direkt miteinander vergleicht, so stellt man fest, dass die gestimmte Version im Einzelton ruhiger sowie die Stimmung in sich harmonischer ist und diese Details sich scheinbar auf den Klang auswirken. Doch selbst für mich als Profi-Klavierstimmer mit der doppelten Hybrid-Stimmtechnik primaTEK© ist das gute Ergebnis nicht einfach zu erreichen und genau genommen auch nur suboptimal. Möglicherweise halten Sie meine Kritik für überzogen. Hören Sie sich einfach das nächste Hörbeispiel an. Es handelt sich um die Überprüfung der Oktaven im Diskant. Die sollten schwebungsfrei sein. Am Anfang wird das Kriterium erfüllt. Dann beginnen einzelne Oktaven zu schweben. Bei manchen Oktaven habe ich daher die Einzeltöne isoliert angeschlagen. Nun hört man, dass die Schwebung, die man gerade in der Oktave wahrgenommen hat, von dem einzelnen Ton stammt. Innerhalb des schwebenden Tons sind es ein oder mehr Saiten, die in sich derartig starke Nebenschwebungen haben, dass diese keinen sauberen Ton ermöglichen. Das heißt, einzelne Saiten sind unrein. Wenn es aber keine reinen Töne gibt, so kann es auch keine sauberen Oktaven geben:

Unreine Einzeltöne - unsaubere Oktaven

Ein ähnliches Ergebnis ergibt die Überprüfung der Oktaven im Bass. Anfangs klingen die Oktaven gut. Dann tauchen immer mehr Oktaven mit Störungen auf. Der untere Ton scheint zu hoch zu sein. Beim A2 angelangt kehre ich die Richtung um. Gleichzeitig überprüfe ich nun über zwei Oktaven die Stimmigkeit. Und zur Überraschung stimmt nun (fast) alles. Wie kann das sein? Ist das ein Kleinklavier, für das diese Probleme typisch wären? Nein, unser Klavier ist 130 cm hoch. Ist es das Instrument eines Billigherstellers? Nein, der Produzent trägt den unter Klavierspielern wohlklingenden Namen Bösendorfer. Dementsprechend hoch ist der Preis für dieses Piano. Woran liegt es dann?

Zum einen liegt es an dem Phänomen der Bass-Saiten, das man Residualton nennt. Das heißt, das Ohr konstruiert einen fehlenden Grundton. Tatsächlich vorhanden ist stattdessen oftmals der 4. oder 6. Oberton. Stimmgeräte tragen dem Rechnung, und haben im Bass bereits den 4. oder 6. Oberton als Sollwert vorgegeben. Es gibt also keine reinen Oktaven, wenn die tiefen Töne mit den höheren Lagen noch zusammenpassen sollen:

Unstimmige Oktaven im Bass

Aber ist das immer so? Nein. Das Saitenmaterial macht den Unterschied - und möglicherweise auch die Bauweise sowie die Konstruktion. Das Klavier aus unserem Hörbeispiel wurde durchgängig mit so genannten Agraffen versehen, die den Ruf haben, unreine Saiten zu produzieren. Da das Phänomen der unreinen Saiten aber ebenso häufig bei Klavieren mit Druckstab auftritt, favorisiere ich als Fehlerquelle das Saitenmaterial. Der einzige Hersteller mit auffallend gut zu stimmenden Flügeln, Mason-Hamlin (USA), hat darüber hinaus mit dem Crown-Retention-System eine eigene Konstruktion, die den Unterschied ausmachen könnte. Im Klavier ebenso wie im Flügel hält die Gussplatte die Spannung in der Zugrichtung der Saiten. Das Crown-Retention-System ist der Gegenpol zu den Druckkräften, die sich aus der Resonanzbodenwölbung ergeben. Genau genommen ist dieses System ein zusätzlicher Gegenpol. Denn der bislang primäre Gegenpol zur Wölbung des Resonanzbodens sind die darüber liegenden Saiten mit ihrer Spannung. Das unter dem Resonanzboden liegende Crown-Retention-System könnte durch eine Entspannung der vom Resonanzboden massiv auf die Saiten wirkenden Kräfte dazu beitragen, dass die Veränderung der Saitenspannung beim Stimmen flüssiger vor sich geht, die Einstellung der Tonhöhe somit exakter zu kontrollieren ist, wodurch sich insgesamt die Stimmbarkeit wesentlich verbessert. Der Witz an dieser Konstruktion von Mason-Hamlin besteht darin, dass man mit dem Crown-Retention-System eine andere Absicht verfolgt hat. Die durch diese neue Erfindung erreichte Verbesserung der Stimmmbarkeit wäre demnach ein rein zufälliges Ergebnis.

Aber wie kann es sein, dass ein Hersteller wie Bösendorfer minderwertiges Saitenmaterial eingesetzt hat? Die jüngere Geschichte des Premiumherstellers aus Österreich liefert die Erklärung. Denn bereits seit längerem haben mehr oder weniger alle Klavierhersteller ein Problem mit der Rentabilität ihres Geschäfts. Dass selbst renommierte Klaviermarken verkauft werden, ist schon seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Fall. Bösendorfer wurde 1966 zur Aktiengesellschaft und auf diesem Weg von dem amerikanischen Holzhändler und Klavierbauer Kimball (USA) übernommen. Qualitätsverlust in Verbindung mit gestiegenen Preisen kennzeichneten diese Zeit. 2002 kaufte die Bawag, einer großen Bank aus Österreich, den Klavierbauer mit seinem Stammsitz in Wien. Doch die neue Zeit währte nur bis 2007. Denn die Bawag musste sich wegen der Finanzkrise von Bösendorfer trennen. Wie Sie vermutlich wissen, wurde 2007 Bösendorfer von Yamaha übernommen. Die Japaner gaben eine Standortgarantie ab und seitdem geht es bei den Österreichern in Riesenschritten aufwärts. 2002? Da war doch was? Ja, 2002 wurde das Klavier aus unserem Hörbeispiel gebaut. Die Endzeitstimmung mit Kimball sowie die damals noch unsichere Erwartung der Zukunft führten zu diesem Ergebnis. Wie könnte nun eine Marke handeln, die die Herzen ihrer Kunden erobern will?

Von den Autobauern zahlreicher Marken hören wir immer mal wieder von Rückrufaktionen. Der Grund sind meist Sicherheitsrisiken und daher sind derartige Aktionen mit einer negativen Bewertung verbunden. Aber das müsste nicht sein. Wenn ein entsprechend weitsichtiger Klavierhersteller den Schwerpunkt seines Marketings weg von der Gewinnoptimierung durch Qualitätsabbau hin zu einem echten Sehnsuchtsmarketing verlagern würde, dann könnte er eine derartige Rückrufaktion mit dem Motto Saitenwechsel verbinden. Dabei würde der Saitenwechsel zu einem inhaltsreichen Wortspiel werden, denn er beinhaltet das gleich lautende Wort Seitenwechsel. Mit diesem Hinweis verpflichtet sich der Hersteller zu einer Neupositionierung an der Seite seiner Kunden, der Klavierspieler. Damit würde er die Verbindung zu seinen Kunden nachhaltig stärken und wäre sich einer begeisterten Mundpropaganda sicher!

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