Sie hören die Endstimmung eines Flügels. Am Anfang wie üblich das Durchspielen aller Tonarten über alle Lagen. Wie gefällt Ihnen das Ergebnis der Stimmung? Haben Sie Auffälligkeiten wahrgenommen? Vermutlich nicht.
Es folgt meine Kurzversion des C-Dur-Praeludiums, also der Test, wie sich die musikalische Stimmung in Verbindung mit Musik macht. Auch hier keine Auffälligkeiten.
Wir gehen ins Detail. Die Überprüfung der Referenzoktave ergibt keine Abweichungen: Die Dur-Terzen schweben gleichmäßig ansteigend.
Die Überprüfung der Oktaven ergibt im Diskant die eine oder andere Schwebung. Unreine Oktaven? Jein. Die Oktaven sind so rein, wie das Material der Saiten dies erlaubt. Das heißt, wenn einzelne Saiten unrein sind, also Nebenschwebungen haben, wird auch der Ton nicht rein sein, der im Diskant aus 3 einzelnen Saiten besteht. Wenn der einzelne Ton nicht schwebungsfrei ist, dann sind auch die Prüfungsintervalle nicht schwebungsfrei. Ist das ein Problem? Für die Musik offensichtlich nicht. Das ist letztlich der Preis, den wir bereit sind, für den natürlichen Ton, also den Ton aus einer akustischen Klangquelle bestehend aus natürlichen Materialien hinzunehmen. Das Gegenteil wäre der synthetische Ton. Der ist uns wieder zu langweilig, da eben synthetisch, sauber, so ganz ohne Störung. Aber: In einer Zeit der zunehmenden Digitalisierung hätten wir schon gerne die aus anderen Bereichen bereits gewohnte digitale Präzision. Die ist aber bei einem akustischen Klangkörper nicht möglich.
Wir kommen bei unserer Überprüfung in den Bass. Manche Oktaven haben schon etwas mehr Auffälligkeit. Und unten angelangt sind wir der festen Überzeugung, dass die Oktaven zu eng, die unteren Töne also zu hoch gestimmt sind. Was ist hier los? Hat der Stimmer keine Erfahrung? Doch hat er. Er hat den Flügel bereits mehrfach und immer für Konzerte gestimmt. Wie kann man das also erklären?
Nun, erklären kann man es mit den Besonderheiten der Saiten im Bass, die ja aus einem Kerndraht bestehen, der umwickelt ist. Das ist ein Trick, da andernfalls der bloße Kerndraht für ein akustisches Instrument zu lang sein müsste, um die tiefen Töne zu erzeugen. Doch dieser Trick hat einen Preis: Die Saiten sind häufig in sich stark unrein, und es ist schwer, überhaupt auch nur den richtigen Grundton wahrzunehmen. In der untersten Oktave des Pianos spricht man sogar von so genannten Residualtönen. Das sind Stellvertretertöne. Das heißt, wir hören nicht den Grundton der Taste, die wir drücken, sondern den 4. oder 6. Oberton - wenn es gut läuft. Wenn die Saiten ganz schlecht sind, dominiert ein ganz anderer Oberton. Den zur Taste passenden Grundton errechnet und suggeriert uns unser Hörzentrum. Das nennt man ein psycho-akustisches Phänomen. Diese gesamte mit den Basssaiten verbundene Problematik trifft dummerweise sowohl für das menschliche Ohr als auch für das scheinbar objektive Frequenzmessgerät zu. Wie kann man das Problem also verträglich lösen?
Setzen wir unsere Überprüfung fort. Wenn ich den Bass über 2 Oktaven spiele, scheint das Problem schon wesentlich besser zu sein, als über eine Oktave. Und wenn ich den Bass über 3 Oktaven spiele, dann passen die unteren Töne perfekt. Wenn ich den Flügel also so stimme, dann passen die tiefen Töne zu der Mittellage. Stimme ich ihn jedoch wie erwartet, dass die Oktave möglichst genau zusammen passt, dann passen die tiefen Töne nicht mehr zur Mittellage. Das heißt, man hat als Stimmer die Garantie, das Klavierspieler ganz selbstverständlich erwartete in jeder Hinsicht passende Ergebnis nicht erreichen zu können. Man muss sich entscheiden.
Überprüft jemand nach dem Stimmen das Ergebnis, indem er die Oktaven auf Reinheit testet, kann es also geschehen, dass man als jemand entlarvt wird, der offensichtlich nicht einmal Oktaven stimmen kann. In diesem Fall muss man gestehen, dass der Flügel eben nicht perfekt zu stimmen ist – obwohl auf ihm der Markennamen Steinway steht. Hat man das erste Mal mit dem Stimmer zu tun, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man eher dem Markennamen als der Aussage des Fachmanns vertraut. Versucht man dennoch die Aussage zu verifzieren, stellt sich die Frage: Ist es eine Frage des Alters der Saiten? Jein. Der Flügel wurde in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut. Tatsächlich hatten auch alle großen Marken schlechte Zeiten beziehungsweise sie waren eben vor rund hundert Jahren noch nicht auf dem heutigen Stand der Materialforschung und der Technik. Doch ganz ehrlich: Fast alle Klaviere und Flügel sind im Bass mehr oder weniger problematisch. Das ist wie schon erwähnt der Konstruktion der Saiten im Bass geschuldet. Das könnte man jetzt einfach so stehen lassen, wenn es nicht ganz selten, wirklich sehr selten Ausnahmen geben würde. Auf den beiden Flügeln, ja, es waren in meiner ganzen Laufbahn als Klavierstimmer nur zwei Instrumente, die im Bass nach Gehör einwandfrei zu stimmen waren, stand jedoch beide Male der Namen Mason-Hamlin. Diese Marke kennen Sie nicht? Das ist normal. Das gehört eben alles unter die Rubrik Merkwürdigkeiten.
Apropos Merkwürdigkeiten: Sie können nicht glauben, dass die Saiten im Bass tatsächlich so schlecht sind? Das habe ich mir schon gedacht. Daher habe ich am Ende die Töne einzeln mehrfach angeschlagen und auch ausklingen lassen. Wenn Sie ein Stimmgerät haben, dann können Sie das nun einsetzen. Es wird Ihnen sicher verraten, dass die tiefen Töne zu hoch sind. Aber es kann Ihnen nicht erklären, warum diese scheinbar zu hohen Töne zur Mittellage passen. Und wenn Sie ein gutes Stimmgerät haben, dann werden Sie daran sehen, wie es teilweise Probleme hat, den Ton zu erkennen, und wie viel Bewegung in der Anzeige zu sehen ist, obwohl der Ton doch nur noch ausklingt, oder dass das Gerät einen ganz anderen Ton anzeigt, als gespielt worden ist, was vor allem bei C1 und Cis1 der Fall ist. Wenn Sie diese Probleme eines Frequenzmessgeräts sehen, dann können Sie verstehen, warum es für das menschliche Ohr extrem schwer ist, Töne derartiger Problemsaiten einwandfrei zuordnen zu können. Um welche Saiten es sich bei den Einzeltönen handelt, können Sie an dem Bild darüber erkennen. Es sind nur die Saiten A2 bis Fis1, die bei diesem Modell M einchörig sind. Das heißt, hier schlägt der Klavierhammer nur eine einzelne Saite an.
Die hier festgestellten Abweichungen von der Anzeige des Stimmgeräts verdeutlichen, warum wir im Fortgeschrittenenkurs des Praktikums Selberstimmen mehr Zeit darauf verwenden müssen, das Gehör zu integrieren, da man sich letztlich nicht auf das Stimmgerät verlassen kann. Es zeigt nicht in jedem Fall das richtige Ergebnis an. Das Stimmgerät ist eine wunderbare Hilfe. Aber es ist kein vollständiger Ersatz für das Ohr, das nach wie vor entscheidet, was richtig ist.
Gehen wir noch einmal zurück. Hören wir noch einmal das Hörbeispiel vom Anfang an. Das Problem mit den Oktaven im Bass fällt im Zusammenspiel gar nicht auf. Es fällt erst auf, wenn man nach Oktaven isoliert durchspielt. Also kann das Konzert problemlos stattfinden.
Ihnen ist aufgefallen, dass ich beim Probespielen ziemlich am Anfang hängen geblieben bin? Wie ist das an einem Flügel zu erklären, der für seine leichte und somit angenehme Spielart bekannt ist? Nun, das ist schlicht der Tatsache geschuldet, dass meine Finger nach 2 Stunden Stimmen in einem Raum von anfangs 16 und am Ende 17 Grad etwas steif waren.
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