Als Konzertstimmer hat man die höchste Stufe auf der Karriereleiter eines Klavierstimmers erreicht. Man darf Konzertflügel der besten Marken in wunderschönen Konzertsälen für ausgebildete Pianistinnen und Pianisten nicht nur stimmen, sondern die Instrumente für die Tauglichkeit der Belastung eines Klavierkonzerts vorbereiten.
Inwiefern unterscheiden sich dann die Konzertstimmung von der Normalstimmung? Was bekommt der Pianist an Mehrwert? Tatsächlich bekommt der Pianist den Mehrwert, dass der Klavierstimmer unter Umständen das Instrument vor und nach den Proben und somit mehrfach stimmt und sogar noch im Konzert anwesend ist, um gegebenenfalls in der Pause noch einmal nachstimmen zu können. Sie sind über den Umfang und die Intensität eines Konzertservice erstaunt? Tatsächlich ist das Klavierkonzert für das Instrument eine Art Extrembelastung. Je nach Pianist und Programm wird das Konzert für das Piano zu einem Härtetest.
Aber unterscheiden sich die Konzertstimmung und die normale Klavierstimmung tatsächlich? Auf diese Frage gibt es ein klares Jein! Grundsätzlich gibt es zwischen der Vielzahl an Klaviermarken und deren Herkunftsländern Unterschiede. Eine absolut identische Klavierstimmung ist unmöglich. Es gibt immer nur Annäherungen an das Ideal. Die Gründe für die Unterschiede in der Stimmbarkeit sind konstruktiv bedingt sowie materialabhängig. Das Saitenmaterial ist zum Beispiel dafür verantwortlich, ob die einzelnen Saiten Nebenschwebungen haben oder nicht. Störungen in Form von Nebenschwebungen schränken die Erreichbarkeit der Reinheit des einzelnen Tons und somit nachfolgend die Präzision der Intervalle ein. Ferner beeinflussen Nebenschwebungen den Klang. Die Gleichtemperierte Stimmung als Voraussetzung für den freien Wechsel der Tonarten erfordert eine sehr hohe Präzision der Stimmung und damit der Stimmbarkeit. Einschränkungen der Stimmbarkeit aufgrund der erwähnten Eigenschaften des Saitenmaterials muss der Stimmer versuchen, verträglich zu gestalten. Der tolerierbare Fehler soll kleinstmöglich sein. Aber kann man mit einer derartigen Orientierung an der Fehlerminimierung das Optimum einer Klavierstimmung erreichen? Am Anfang dieses Abschnitts haben Sie das Wort Ideal gelesen. Was aber ist das Ideal einer Klavierstimmung? Beschränkt es sich auf die so genannte (musikalische) Temperatur, also die Einteilung der Abstände der Halbtöne innerhalb der Referenzoktave? Oder gibt es weitere zu erfüllende Kriterien, die die Wirkung der musikalischen Stimmung wesentlich beeinflussen?
Das Maximum der Erreichbarkeit erfordert vom Stimmer eine innere Haltung, die über die Orientierung an der Fehlerminimierung hinausgeht. Diese Haltung entsteht ganz natürlich aufgrund der eigenen Musikalität. Das setzt jedoch voraus, dass man sich etwas intensiver auf das Thema Musik einlässt. Dabei geht es erst einmal weniger um die Musiktheorie als vielmehr um den Faktor der Hör-Lust. Die beim Hören ausgelösten Emotionen sind der Maßstab dafür, ob wir Lust haben, etwas immer wieder zu hören. Die uns emotionalisierenden musikalischen Elemente sind interessanterweise im Wesentlichen die zum Kontext passende Variation der Tonhöhen sowie die Gestaltung des Klangs. Wie stark die Rolle der Emotionen bei dem zuletzt genannten Faktor ist, lässt sich sehr schön aufzeigen, wenn man nicht vom Klang, sondern vom Sound spricht. Im Sound ist die Emotionalität bereits integriert. Klang wirkt dagegen eher technisch und kalt.
Unausgesprochen erwartet man, dass der Klavierstimmer nicht nur Klaviere stimmt, sondern auch spielt, um nämlich zu verstehen, dass es Musikern darum geht, Emotionen auszudrücken. Das Klavierspiel ist aber weder eine Voraussetzung noch Teil der Ausbildung zum Klavierbauer. Technisch gesehen benötigt der Klavierstimmer das Wissen und die Erfahrung von den Grenzen der Klavierstimmung sowie von dem eigentlich erwünschten Potenzial einer musikalischen Stimmung. Das sind beides spannende Themen. Musiker beherrschen in der Regel die Gesetzmäßigkeiten der Stimmung in der jeweiligen Gattung ihres Instruments. Schon die Tatsache, dass es in Abhängigkeit von den Besonderheiten der Musikinstrumente Unterschiede in der Stimmbarkeit sowie des Gestaltungsspielraums der musikalischen Stimmung gibt, ist selbst unter Musikern weithin unbekannt. Um das Potenzial der musikalischen Stimmung entfalten zu können, bräuchte es genau genommen zuerst einmal eine offene Diskussion zwischen Musikern und Musikinstrumentenherstellern. Kommt es zu einem solchen Gespräch, sind erstaunliche Ergebnisse die unmittelbare Folge. Beispiele für den erfolgreichen Austausch zwischen Musiker und Klavierbauer sind sowohl der von Ignaz Bösendorfer gebaute 8 Oktaven umfassenden Flügel Imperial (ursächlich war der Kontakt mit dem Komponisten Ferruccio Busoni) als auch das von David Klavins gebaute Una-Corda-Piano (Auslöser war das Gespräch mit dem Pianisten Nils Frahm). Der von uns als ideal angesehene Klavierstimmer braucht zum Erreichen von phantastischen Zielen die Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten. Es geht um die Grenzen des Bestehenden sowie um die Hindernisse auf dem Weg zum Möglichen. Aber kann man tatsächlich erwarten, dass Themen, die nicht einmal im Bewusstsein der unmittelbar betroffenen Musiker umfassend repräsentiert sind, von einem Fachmann für die Klavier-Stimmung grenzüberschreitend und mit traumwandlerischer Sicherheit umgesetzt werden?!
Grundsätzlich leidet das Piano unter dem Handicap der mangelnden Flexibilität der Gestaltung des Tons durch den Klavierspieler. Sie können zwar entsprechend des Namens Pianoforte ein gutes Spielwerk vorausgesetzt die Lautstärke von Pianissimo bis Fortissimo variieren. Doch schon die Klanggestaltung von grundtönig bis obertonreich ist eher eine zufällige Folge der Anschlagsdynamik wiederum unter der Voraussetzung, dass der Filz auf den hölzernen Hammerkernen eine ausreichende Flexibilität aufweist, um sich entsprechend der Anschlagsstärke in der Form anpassen zu können. Doch die Tonhöhe lässt sich im Spiel nicht verändern. Die Möglichkeit zur Gestaltung der Tonhöhe hat die Klavierindustrie zugunsten der Entwicklung der Lautstärke vollständig an den Klavierstimmer delegiert. Falls Sie nun denken, dass das gar nicht anders denkbar sei, so erwähne ich nur kurz, dass das bis Mitte 1800 noch weit verbreitete Clavichord dazu in der Lage ist. Und auch das von Leonardo da Vinci entworfene Streichklavier (englische Untertitel im Video rechts unten über "Einstellungen" aktivieren) war als Tasteninstrument so angelegt, dass man die Tonhöhen im Spiel verändern konnte.
Der Klavierstimmer hat sich also für bestimmte Tonhöhen innerhalb der Stimmung entschieden hat. Die gewählten Tonhöhen orientieren sich wiederum am Zusammenspiel der Töne untereinander sowie an den möglichen Begleitinstrumenten. Beim Konzert mit einem Orchester sollten im Interesse der Gestaltungsmöglichkeiten der Streicher, Bläser sowie der Sänger die Grenzen der herkömmlichen Klavierstimmung überschritten werden, da die aufgezählten Instrumentengruppen dazu angehalten sind, entsprechend der Möglichkeiten ihrer Instrumente reine Intervalle zu intonieren. Reine Intervalle sind bei der Klavierstimmung jedoch die Ausnahme! Manfred Spitzer ist der Ansicht, dass es lediglich eine kulturelle Übereinkunft ist, dass Oktaven rein sein sollen. Die Reinheit der Oktaven ist es, die den Spielraum anderer Intervalle zugunsten der Reinheit stark beschränkt. Das führt in der Konsequenz dazu, dass die Klavierstimmung im Orchesterkonzert sehr schnell nicht mehr zu den rein intonierenden Streichern und Bläsern passt. Um also dem musikalischen Gesamtkonzept einer ganzheitlichen musikalischen Stimmigkeit entgegenzukommen, sollte die Klavierstimmung diese Einschränkung überschreiten dürfen. Dem Klavierstimmer stehen für diese Grenzüberschreitung genau genommen die Türen offen. Die Inharmonizität der Klaviersaite ist die Folge der immer höheren Anforderungen an die Zugfestigkeit der Saiten eines Instruments, das gleichzeitig immer lauter wurde und immer höher gestimmt wird. Die Zugfestigkeit der Saite verändert deren Schwingungsverhalten, das sich auf die Abstände der Obertöne innerhalb der Saite auswirkt. Dieser je nach Material und Mensur quasi individuellen Spreizungskurve soll die Stimmung des Pianos folgen. Die Spreizung ist das Mittel der Wahl auf dem Weg zum Optimum der Klavierstimmung, und somit die alternative Richtschnur gegenüber der ausschließlichen Orientierung an der Reinheit der Oktaven. Unser Gehör beurteilt am Ende, ob Saitenmaterial und Mensur des Instruments eine ausreichend starke Spreizung zugelassen haben oder nicht. Leider sind die Pianos in der Stärke der Spreizungskurve aufgrund stimmungstechnischer Besonderheiten häufig limitiert, so dass man sich mit einer etwas schwächeren Spreizung als vom anspruchsvollen Ohr erwünscht begnügen muss. Das Optimum der Spreizung ist nämlich nur nach Gehör ermittelbar, auch wenn uns die Hersteller von Stimmgeräten etwas anderes suggerieren wollen. Wenn aber ein Instrument z.B. aufgrund unreiner Saiten, einem schlechten Wirbelgang, etc. nach Gehör nur schwer zu stimmen ist, ist der Spielraum automatisch eingeschränkt.
Haben Sie eigentlich den Sachverhalt bis zu dieser Stelle problemlos nachvollziehen können? Nein? Dann stimmen Sie vermutlich auch nicht mit meiner Argumentation in jedem Punkt überein? So geht es sicher auch vielen meiner Kollegen. Allein das mentale Erfassen der Thematik ist schon nicht einfach. Und nun brauchen sie noch das stimmungstechnische Handwerkszeug, also das Wissen und die Erfahrung hinsichtlich der entsprechenden Kontrollintervalle, um die passende Spreizung finden zu können. Die Kontrolle der Spreizung ist im Rahmen des Gehörstimmens aufgrund des außergewöhnlich großen Tonumfangs des Pianos von über 7 Oktaven ein besonders anspruchsvolles Thema. Zusammenfassend stelle ich fest, dass die angeführten Aspekte der Klavierstimmung keine Selbstverständlichkeiten sind. Diese Kriterien gilt es, in das Optimum einer Klavierstimmung zu integrieren, um unserer unterbewussten Erwartungshaltung an eine Konzertstimmung zu entsprechen.
Das Problem ist nun: Selbst wenn man das alles weiß, woher nimmt man die Erfahrung, um diesen hohen Anspruch erfüllen zu können? Schließlich hat man ja nicht täglich mehrere Konzertstimmungen, um darin ausreichend Übung zu bekommen? Der Kreis schließt sich, wenn wir an den Anfang zurückkehren. Sie erinnern sich, dass ich oben Ihre Frage, ob es denn einen Unterschied zwischen der normalen Klavierstimmung und der Konzertstimmung gibt, mit einem klaren Jein beantwortet habe. In diesem Sinn ist die Lösung vergleichsweise einfach: Jeder bekommt die Superstimmung! Nur wenn ich mich bei jeder Klavierstimmung darum bemühe, eine Superstimmung zu erreichen, bin ich diesbezüglich fit, wenn ich den Auftrag für eine Konzertstimmung erhalte.
Im folgenden hören Sie die Aufnahmen des Probespiels einer Konzertstimmung in Bad Lobenstein. Da der Flügel mehrfach im Jahr vor jedem Konzert von der Klavierstimmerei Praeludio® gestimmt wird, ist die Verstimmung nicht gravierend:
Und nun die Aufnahme des Probespielens nach dem Stimmen. Es ist Sonntag, der 3. Januar 2016, 16 Uhr und somit 2 Stunden später als vor der Stimmung. Daher ist es etwas dunkler. Das Neujahrskonzert beginnt um 17 Uhr: