Was wissen Sie über den Kammerton?

Der Grundton des gemeinsamen Musizierens

Wie geht es Ihnen?

Bevor wir uns gleich mit dem Kammerton beschäftigen, lassen Sie uns am besten mit den Nebenwirkungen beginnen. Nebenwirkungen? Ja, die stehen in der Regel so klein gedruckt auf dem Beipackzettel unser heilenden Medikamente, dass sie kein Mensch ohne Lupe lesen kann. Dort liest man von Nebenwirkungen des Heilmittels, die das Risiko für oftmals ein ganzes Füllhorn an neuen Krankheiten beinhalten. Medikamente haben also zusätzlich der gewünschten Wirkung auch meist unerwünschte Nebenwirkungen.

Auch die Musik wirkt. Deswegen hören und spielen wir ja Musik. Musik soll Schwung in den Tag bringen. Sie soll uns gut stimmen, motivieren, oder es ermöglichen, dass wir unsere Wut auf die Welt einfach abtanzen können, da sich ohne dieses Dampf ablassen die aufgestaute Energie gegen uns richtet und uns krank macht. Das Musizieren und hier vor allem das Klavier spielen wird heute oftmals praktiziert, um sich entspannen zu können. Gerade das Piano hat bzw. hatte früher mal so einen angenehmen, geradezu romantischen Klang, der in uns einen Automatismus zur Entspannung auslöst. Aber ist die von uns gesuchte Entspannung denn auch immer garantiert? Kann ich mich entspannen, wenn mein Klavier grell und laut klingt, die leisen Töne in der Regel gar nicht möglich sind? Und wie gelingt mir die Entspannung in Abhängigkeit davon, ob die Musik höher oder tiefer gestimmt ist? Sie stutzen und wenden ein: Was, die Musik ist nicht immer auf der gleichen Tonhöhe gestimmt? Nein, die Grundtonhöhe der Musik war früher tiefer, da man zuerst z.B. Saitenstahl für hohe Zugkräfte entwickeln und Konstruktionen erfinden musste, um die extremen Belastungen des Materials, die heute im Klavier üblich sind, überhaupt verarbeiten zu können. Deswegen haben die Pianos für die Vielzahl der Saiten eine Platte aus Gusseisen, in der die Saiten aufgehängt sind. Die Gussplatte in jedem Pianoforte ist es, die den Umzug des Instruments im wahrsten Sinne des Wortes erschwert. Ältere Klaviere wurden zu einer Zeit gebaut, als ein tieferer Kammerton üblich war.

Die Tonhöhe stieg also im Lauf der Zeit immer mehr an. Doch was macht die Tonhöhe eigentlich mit uns? Betrachten wir zum Vergleich unsere Stimme. Je nach Geschlecht und Körpergröße haben wir unterschiedliche Stimmlagen. Die Stimmlage schwankt sogar in Abhängigkeit von unserer Tagesform und Befindlichkeit. Jeder hat das bei sich persönlich schon erlebt, dass man eine vergleichsweise tiefere Stimme hat, wenn man entspannt ist. Bei hoher Anspannung neigt man zum Gegenteil, nämlich zum Kreischen. Die Stimmlage ist die individuelle Grundhöhe unserer Stimme. Somit ist unsere Stimmlage die hörbare Rückmeldung zu unseren Befindlichkeit, die auf dem Grad der inneren An- bzw. Entspannung beruht. Wenn aber die Höhe unserer Stimmlage unsere innere Befindlichkeit nach außen signalisiert, dann ist klar, dass sich die Tonhöhe der Musik umgekehrt auf unsere Befindlichkeit auswirkt. Das habe ich ja bereits eingangs behauptet. Das bedeutet, dass die Tonhöhe der gehörten Musik einen Einfluss auf meine innere An- bzw. Entspannung hat. Eine immer höher gestimmte Musik, wirkt daher auf uns auch immer stärker anspannend. Stimmen Sie soweit mit mir überein? Dann lassen Sie uns auf der Grundlagen dieser wesentlichen Erkenntnisse nun einen umfassenden Blick auf den Kammerton werfen.

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Exklusives Musizieren in der Kammer der Fürsten

Warum heißt dieser Ton so?

Die Bezeichnung Kammerton stammt aus der Zeit, als mehrere Musiker sich in der Kammer des Fürsten trafen, um für diesen zu musizieren. Als erstes mussten sich die verschiedenen Instrument einstimmen auf einen gemeinsamen Grundton. Dieser Grundton ist heute als a1 (deutsche Notation) bzw. A4 (internationale Notation) definiert. Und da es der gemeinsame Grundton für die Musik in der Kammer des Fürsten war, bekam er die Bezeichnung Kammerton.

Hören Sie die Sonate e-moll op. 2 no. 1 komponiert von dem Geigenvirtuosen und Komponist Jean-Joseph Cassanéa de Mondonville (1711 - 1772) gespielt vom Altera Pars Ensemble im Oldenburger Schloss.

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Die Tonhöhe des gemeinsamen Abstimmungstons

Welche Frequenz hat der Kammerton?

Hier muss man unterscheiden: 1939 kam die Frequenz von 440 Hertz als Kammerton als Empfehlung in die Welt, die anschließend zur Norm umgedeutet wurde. Vor dieser Zeit war der Kammerton frei wählbar und es gab nicht nur regional große Unterschiede, sondern die Tonhöhe schwankte auch relativ stark. Anfang 1900 bis eben 1939 betrug der Kammerton im Allgemeinen 430 – 435 Hertz.

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Den freien Kammerton an die Kette legen...

Warum hat man den Kammerton international festgelegt?

Das ist eine gute Frage. Die interessante Antwort lautet, dass dies eine Maßnahme im Zug der immer weiter fortschreitenden Industrialisierung war, als die Musikindustrie den Kammerton zur Grundlage für die anschließende Massenproduktion heranzog.

Die Massenproduktion läuft inzwischen in allen nur denkbaren Bereichen so gut, dass man es gerne übersieht, dass den Kunden schon vor 30 Jahren angekündigt hat, die Produktion zu individualisieren. Dieser Schritt würde den Umbau von einfachen Maschinen zu anpassungsfähigen Maschinen erfordern. Diesen Fort-Schritt verweigert die Industrie weitgehend. Daher kommt es seit der Erfindung der Massenproduktion zu dem Phänomen, dass die Industrie die Politik dahingehend bedrängt, ausreichend für Armut zu sorgen, damit die Fabriken mit ihren nicht mehr zeitgemäßen Maschinenparks eine ausreichende Auswahl an billigen Arbeitskräften hat. Dieses Dilemma, das nämlich den Faschisten in die Hände spielt, hat die Wirtschaftswissenschaftlerin Clara Mattei recherchiert und ihrem Buch Die Ordnung des Kapitals 2025 publiziert.

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Die Grundtonhöhe der Musik beeinflusst unsere Stimmung

Was hat es für Auswirkungen, ob man ein Instrument auf 430 oder 440 Hertz stimmt?

Bevor ich die Frage nach den Auswirkungen beantworte, sollte man die Frage stellen: Kann man denn alle Pianos auf den seit 1939 allgemein üblichen Kammerton von 440 Hertz stimmen kann? Die Antwort ist Nein. Die Klaviere, auf die man heute in den Wohnungen trifft, haben ein häufig unglaubliches Alter von 100 und wesentlich mehr Jahren. Die Klavierbauer früherer Zeiten haben äußerst nachhaltig produziert. Klaviere, die vor 1939 gebaut worden sind, waren in der Regel für 430 bis 435 Hertz ausgelegt. Wenn man diese guten alten Pianos versucht auf 440 Hertz zu stimmen, passiert es häufig, dass Saiten reißen. Der Grund dafür ist leicht nachvollziehbar, denn diese zwar für hohe Zugkräfte ausgelegten Saiten stehen dann seit gut 100 Jahren unter Dauerspannung. Ja, Sie vermuten es richtig, diese alten Pianos haben alle noch ihre Originalteile, sowohl die ursprünglichen Saiten, als auch die gesamte ursprüngliche Mechanik! Tatsächlich lässt sich daraus schließen, dass der Verschleiß gar nicht so groß ist, wie man manchmal lesen kann.

Die Auswirkung auf den Klavierspieler und die Hörer von Klaviermusik ist in Abhängigkeit von der Frequenz des Kammertons gerade für musiksensible Menschen ein wichtiges Thema. Denn grundsätzlich spannt uns eine höher gestimmte Musik stärker an, während eine tiefere Stimmung die Entspannung fördert. Diesen Zusammenhang von der Ursache und ihrer Wirkung haben wir ja bereits in der Einleitung am Beispiel unserer Stimmlage in Verbindung mit unserer Befindlichkeit erörtert. Trotzdem ist das Wissen über die Wirkung eines unterschiedlich hohen Kammertons bis heute eine Art Geheimwissen. Seltsamerweise verfügen über solch wesentlichen Kenntnisse oftmals nur die falschen Leute und setzen es natürlich in ihrem Interesse ein. Dieses Muster gilt es zu durchschauen, wenn man herausfinden möchte, welcher Kammerton für einen selbst passend wäre. Denn nur dann kann ich so Musizieren, dass der Vorgang die von mir erwünschte ganzheitliche Wirkung erzielen kann. Daher informiere ich Sie über diesen Blog.

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Den Kammerton individueller Nutzung zugänglich machen

Wären 430 Hertz nicht besser als 440 Hertz?

Ja, zu diesem Schluss sind Musiker immer wieder gekommen, wenn sie das Thema diskutierten. Warum aber haben wir dann heute 440 Hertz als Kammerton? Die Empfehlung für die internationale Festlegung des Kammertons auf 440 Hertz betrifft die Konferenz zur Industrienorm, die in Verbindung mit der Stimmtonkonferenz 1939 in London stattfand. Hier wurde erstmals diskutiert und dann auch beschlossen, dass der Kammerton international auf eine Tonhöhe festgelegt werden soll. Bereits lange vor dieser Konferenz schlug Giuseppe Verdi 432 Hertz vor. Dem stimmten zahlreiche berühmte Sänger zu. Später setzte sich selbst Nikolaus Harnoncourt als weithin bekannter Pionier für die sogenannte Historische Aufführungspraxis für 430 Hertz als den besseren Kammerton ein. Durchgesetzt hat sich meiner Ansicht nach aber der Zeitgeist, und der war 1939 vom Anfang des Zweiten Weltkrieges geprägt. Wenn Sie jetzt noch wissen, dass Militärkapellen deutlich höher, nämlich auf 466 Hertz stimmen, um sicher zu gehen, dass das mit der Anspannung auch klappt, dann können Sie nachvollziehen, inwiefern die Wahl auf einen deutlich höheren als vorgeschlagenen Kammerton fallen konnte. Da sich die Stimmtonkonferenz aufgrund eigener Regeln wegen des Zweiten Weltkrieges auflöste, zweifelten Musiker diese ihrer Meinung nach Willkürentscheidung in den 50er Jahren an. Bemerkenswert ist, dass sich immer wieder Sänger für einen tieferen Kammerton wie z.B. 430 oder 432 Hertz einsetzen.

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Kirchenmusik mit eigenen Hochschulen und eigenem Kirchenton

Die Kirchen des 21. Jahrhunderts würden 415 Hertz als Kammerton wählen

415 Hertz? Ist das nicht ein bisschen tief? Tatsächlich laufen seit einiger Zeit zuerst in der Evangelischen und nun auch in der Katholischen Kirche Bestrebungen, die Kirchenlieder aufgrund der Überalterung der Gemeinden tiefer zu setzen. Das führt natürlich zu einem großen Aufschrei, da man nun häufig mit ziemlich vielen Vorzeichen konfrontiert wird! Der richtige Weg wäre, den Kammerton, den es schon früher in der Ausgabe als Kirchenton gab, auf die Tonhöhe zu setzen, die in Deutschland zu der Zeit weitgehend aktuell war, als Johann Sebastian Bach und andere einen Großteil der Kirchenlieder komponierten. Damals lag der Kammerton in Deutschland nämlich bei 415 Hertz.

Wenn Sie nun fragen, warum die Kirchen das nicht einfach so handhaben, dann gibt es folgende Antworten:

  • Der Kirchenton war früher deutlich höher. Davon zeugen historische Orgeln mit ganz enormen Tonhöhen. Das heißt aber auch, dass Orgelbauer traditionell bis heute gerne höher stimmen – und zwar ohne Rücksprache mit der jeweiligen Kirche als Auftraggeber!
  • Orgeln kann man angeblich nicht tiefer stimmen.

Andreas Schmidt spielt Bach Concerto a-moll BWV 593 auf der Historischen Compenius-Rühle-Orgel in Erfurt. Die Orgel ist auf Chorton (Kirchenton) mitteltönig gestimmt.

Die letzte Aussage kann man im Internet auch auf das Klavier bezogen lesen, nämlich dass man für Konzerte Flügel nicht umstimmen kann und daher mehrere Instrumente zur Auswahl vorhalten müsste. Die Behauptung lässt sich leicht als ein nur allzu simples Marketing entlarven. Denn das ist so nicht zutreffend. Richtig ist, dass die meisten Stimmer mit dem Anpassen der Tonhöhe im Idealfall am Tag des Konzerts überfordert sind. Das Höherstimmen ist prinzipiell eine Stimmtechnik, die in der Industrie bei jedem Klavier einmalig und somit als ein Sonderfall vorkommt, wenn nämlich die Saiten nach dem Aufziehen des erste Mal von Null auf 100 Prozent Spannung hochgezogen werden müssen. In der Klavierindustrie beherrscht man folglich die Stimmtechnik, wie man ein Klavier in möglichst kurzer Zeit höher stimmt. Das Tieferstimmen ist die gleiche Technik, nur eben in der umgekehrten Richtung. Dank meiner 10-jährigen Trainingszeit in einem Klavierlager unter quasi industriellen Bedingungen sowie aufgrund meiner Affinität zum Einsatz zeitgemäßer Technik konnte ich diese besondere Stimmtechnik nicht nur lernen und täglich an mehreren Instrumenten trainieren, sondern sie als Teil meiner damals neu entwickelten Hybrid-Stimmtechnik primaTEK© verfeinern und biete heute als eine Rarität im Klavierservice die Vor- und Endstimmung in einem Termin zu Festpreisen an.

Zugegeben, bei den Orgeln handelt es sich nicht um Saiteninstrumente. Die Tonhöhe ist hier an die Länge der Pfeifen gebunden. Die Lösung könnte also für die Orgelbauer ein willkommenes Geschäftsmodell sein, das lediglich durch die Tatsache verhindert wird, dass den Kirchen zunehmend das Geld ausgeht und eine wesentliche Grundlage zur Mangelware wird, nämlich die aussterbenden Organisten. Der Trend geht daher eher zu digitalen Lösungen – wobei diese Instrumente einen flexibel wählbaren Kammerton in den meisten Fällen als Leistungsmerkmal mit an Bord haben.

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Kammerton passend zum Temperament eines Volkes. Ist so etwas real?

Welche Tonhöhen wählten früher unsere Nachbarn als Kammerton?

Die Lebenszeit von Johann Sebastian Bach bis 1750 liefert ein wunderbares Beispiel für die Besonderheiten im Umgang mit dem Kammerton, also dem Grundton der gesungenen und gespielten Musik. Denn während in Deutschland 415 Hertz üblich waren, stimmten die Franzosen noch einen halben Ton tiefer auf 392 Hertz, wohingegen die Italiener bei 446 Hertz musizierten. Was war die Ursache für diese gravierenden regionalen Unterschiede in der Tonhöhe? Es könnte sein, dass sich das Temperament des Volkes in der Tonhöhe ausgedrückt hat. Vor unserem inneren Auge tauchen Bilder auf von den quirligen Italienern, sowie von den entspannten Franzosen auf – und wir Deutschen fühlen uns im Durchschnitt vermutlich vom Temperament her in der Mitte angesiedelt. Das wäre vorstell- und nachvollziehbar. Das heißt, die Wahl des musikalischen Grundtons hätte einen natürlichen Bezug, und das wäre nicht nur in Ordnung, sondern besser als eine willkürlich gewählte Tonhöhe, die sich auch noch am Militär als den Treibern weltweiten Unglücks orientiert.

Hören und sehen Sie Gabriela Galván an der zu Lebzeiten des Komponisten neuen Barock-Traversflöte und Isidoro Roitman an der Theorbe, eine Renaissance-Laute. Sie spielen Rondeau-Le plaintif, Gigue-L'Italienne von Jacques-Martin Hotteterre (1673 - 1763), einem französischen Komponisten und Flötisten. Sie spielen auf 392 Hertz, dem Französischen Kammerton.

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Bewirkt die höhere Stimmung einen brillanteren Klang?

Warum stimmen Orchester höher als 440 Hertz?

Orchester waren schon immer etwas Besonderes. Die Geschichte berichtet davon, dass die Wahl eines für Orchester eigenen Kammertons schon öfters der Fall war. Aktuell ist es, dass so gut wie alle Orchester 443 Hertz wählen. Der Grund dafür ist Herbert von Karajan als Vorbild. Er lies nach dem Zweiten Weltkrieg als Leiter der Berliner Philharmoniker das Orchester auf 445 Hertz stimmen. Karajan behauptete, dass man dadurch die Streicher besser hören würde und das Orchester als Gesamtklangkörper einen brillanteren Klang bekäme. Der brillante Klang. Das ist innerhalb der analogen Akustikinstrumente ein besonders wertvolles Klangmuster. Denn der hellere, schärfere Klang wird besser wahrgenommen. Aber das würde ja heißen, dass es innerhalb der Orchester zu einem Spiel der Eitelkeiten kommt? Würde das nicht die Grundidee des Orchesters zerstören, das nämlich durch seine Zusammensetzung und durch situativen Einsatz von verschiedenen Instrumenten das einzig reale Werkzeug zum Sounddesign innerhalb der Welt der akustischen Instrumente ist? Das stimmt. Denn das Orchester und die mit ihm erzeugen Klänge sind ja das Werkzeug in erster Linie des Komponisten! Diese Diskussion war für Herbert von Karajan jedoch nebensächlich. Von ihm ist bekannt, dass er zweimal in die Partei Hitlers eingetreten ist. Daher kann man rückschließen, dass sein Grund für den deutlich höheren Orchester-Kammerton von 445 Hertz die damit verbundene höhere Anspannung war. Denn Fakt ist, dass jeder Geigenbauer die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, da der zarte Steg der Violinen durch die hohen Zug- und Druckkräfte bei dieser Tonhöhe in Grenzbereiche kommt. Die Fachleute raten daher von derartigen Tonhöhen ab. Aufgrund meiner zahlreichen Kundengespräche sind mir Orchester bekannt, die in den Probenpausen ihre Instrumente herunter stimmen, um sie nicht zu überlasten. Genauso sind mir aber auch Orchester bekannt, die davon noch nichts gehört haben. Der höhere Kammerton fürs Orchester war quasi Karajans persönliche Referenz ans Militär über die Entscheidung der Stimmtonkonferenz hinaus. Das meiner Ansicht nach Schockierende ist, dass sich Orchestermusiker vor eine Entscheidung gestellt, in der Regel aufgrund von Gewohnheit sowie eben wegen diesem verflixten brillanten Klang für den höheren Kammerton entscheiden. Damit ignorieren die Orchester die Tatsache, dass in Verbindung mit dem noch höheren Kammerton vor allem für die ständig beteiligten Musiker eine stärkere Anspannung verbunden ist. An der Stelle liefert die Musikermedizin erneut ein Negativbeispiel. Denn anstatt sich aufgrund von zunehmenden Überlastungen der Orchestermusiker inklusive Burn-Out-Syndrom für die Bekämpfung der Ursache, nämlich eines zu hoch gesetzten Kammertons einzusetzen, beteiligt man sich an der falschen Vorgehensweise indirekt, indem man die Symptome diagnostiziert und behandelt. Die sogenannte Medizin der Zukunft führt konsequenterweise zu einem Umdenken, nämlich zum Vermeiden von Krankheiten.

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Musik als effektiver Teil der Medizin der Zukunft

Woran werden wir uns in Zukunft beim Kammerton orientieren?

Wir leben in einer Zeit der Transformation. Alles ist in Veränderung. Davon berichten selbst die Klavierlehrer, wenn ihre Schüler keine Lust mehr auf technisch anspruchsvolle Werke haben. Die Veränderung zeigt sich unter anderem am Erfolg eines Ludovico Einaudi, einem der Hauptvertreter der Neoklassik, oder wie immer man die zur Entspannung animierende Variante nennen will. Einaudi spielt auf allen Bühnen dieses Landes und er kann komplett ausgebuchte Konzerttourneen vorweisen. Seine Spielweise wird gerne aufgegriffen, denn man kommt so relativ einfach zu den Grundlagen der Improvisation, nämlich dem Spielen von sogenannten Loops (Schleifen), die von ihm in leichter Variation praktiziert werden.

Neben Einaudi spielen immer mehr Klavierspieler Filmmusik, also Musik, die zum Träumen, ja zum Fantasieren einlädt. Das ist das musikalische Gegenstück zu einer Welt, in der Hektik, Stress und ein immer schnelleres Lebenstempo normal geworden ist. Die Folgen sind dramatisch, vor allem was unsere Gesundheit angeht. Daher wird der Musikunterricht in naher Zukunft nicht mehr Teil der Antwort auf die Frage sein, mit wie viel Disziplin ich üben muss, um die nächst höhere Stufe im Schwierigkeitsgrad klassischer Werke spielen zu können. Die Motivation, die nächste Stufe in der Rangliste der klassischen Meisterwerke zu erreichen, um mich darüber von anderen differenzieren zu können, wird schon durch das Ansteigen des technischen Schwierigkeitsgrades entkräftet. Denn wie wir heute wissen, stellt die Klavierindustrie einem sehr hohen Prozentsatz der Klavierspieler nicht zu deren Händen passende Klaviaturen zur Verfügung, was dazu führt, dass die Wahrscheinlichkeit von Überlastungen sowie das Risiko von Verletzungen steigt. Aufgrund der so auftretenden Häufungen von Problemen vor allem der Klavier Studierenden ist übrigens an der Musikhochschule Hannover durch Christoph Wagner die Sparte der Musikermedizin überhaupt erst richtig entstanden. Schon damals praktizierte man nicht den einzig richtigen Weg, nämlich Ursachen zu bekämpfen, indem man darüber informiert und auf Veränderung drängt, sondern man hat fleißig die Symptome diagnostiziert und behandelt. Folglich konnte die Klavierindustrie weitere 50 Jahre trotz Mitwissern ausschließlich Pianos mit einer Tastenbreite bevorzugt für männliche Pianisten mit großen Händen produzieren und verkaufen.

Aus gutem Grund dreht sich das Unterrichtsmodell für das Klavierspiel in Zukunft um Sie, um den Menschen, und damit verbunden um die Frage, wie es Ihnen bei dem geht, was Sie und wie Sie es spielen. Anstelle der Außenorientierung über die Identifizierung mit einer Position auf der Rangliste der von mir gespielten Werke wird die Innensicht der Musik treten. Es geht um die Wirkung von Musik sowie um die Musik als Feld zur Entwicklung von kreativen Potenzialen. Spätestens in dem Zusammenhang wird offensichtlich, dass die Musik auch in Bezug auf unsere Befindlichkeit, unsere Lebensfreude, ja Lebenslust, und als deren Grundlage für unsere Gesundheit wesentliche Beiträge leisten kann. Das ist eines der großen Themen der Musik, nämlich ein aktiver Teil der Medizin der Zukunft zu werden, die darauf beruht, dass wir in Eigenverantwortung Krankheiten vorbeugen, gegen die unsere Medizin aufgrund der immer schneller steigenden Zahlen an Erkrankungen längst machtlos geworden zu sein scheint. Auf diesem Weg spielt natürlich der tiefere Kammerton eine wesentliche Rolle, da Entspannung der einzige Ausweg aus dem Hamsterrad und der damit verbundenen immer höheren Anspannung ist. Diesem ersten Schritt werden weitere Schritte folgen, um das ganze Potenzial der Musik zu unseren Gunsten ausschöpfen zu können. Das lässt darauf schließen, dass im Vergleich zur aktuellen Praxis des Musizierens heute schon die Veränderungen absehbar sind. Dieser Trend wird sich verstärken und durchsetzen. Konkret befinden wir uns in der Phase der Entwicklung, die Musik als eine dem Menschen dienende Kulturform neu zu finden, und in der Folge entsprechend individualisiert zu kultivieren. Die Innenorientierung wird dabei gegenüber der bisherigen Außenorientierung, die zu massivem Missbrauch der Musik geführt hat, die Richtung vorgeben.

Missbrauch hat meiner Meinung nach insofern stattgefunden, als wir fürs Klavierspiel mehr Wettbewerbe als für andere Instrumente eingeführt haben. Ja, wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Das Muster passierte zuerst im Sport, der ursprünglich eine ausgleichende Funktion zu der in der Neuzeit verstärkt sitzenden Tätigkeit einnahm. Daraus wurde der Hochleistungssport. In das Klavierspiel hat man einzig aus dem Grund, um Nachwuchs für die Konzertbühnen zu gewinnen, und somit den Status der teuren Flügel im Idealfall noch zu steigern, den Musikwettbewerb eingeführt. So hat man den Leistungssport quasi über die Hintertür integriert. Fakt ist, dass die meisten Musiker von ihrer Profession nicht leben können. Und selbst die Musiker, die den Sprung nach oben geschafft haben, kann man leicht mit dem Ankauf ihrer Musikrechte ködern. Die Folge ist, dass Musik heute von Google über Youtube erfolgreich zum Transporteur von unerwünschter Werbung geworden ist! Das sind alles Formen von Missbrauch eines prinzipiell großartigen Feldes, in dem für den Menschen sehr viel Positives auf äußert angenehmen Weg geschehen kann - wenn man das Feld entsprechend öffnet und bearbeitet. Darin bestehen meiner Ansicht nach die Pflichtaufgaben für die Musikpädagogik, nämlich die Musik als Kreativitätswerkzeug für die Entfaltung von möglichen Begabungen zu gestalten, sowie die eigenbestimmte Musiktherapie auf das vorbeugende Vorher zu erweitern. Oder um es im historischen Bezug zu unserem Thema des Kammertons zu formulieren: Musik gehört nicht nur in die Kammer der Fürsten, Opernhäuser, Kulturtempel und Festivals. Musik ist ein geniales Feld, das vielfältig einen unbezahlbaren Nutzen für uns Menschen bringt, wenn man dem einzelnen Menschen den erfolgreichen Zugang zum zeitgemäßen und freien Musizieren ermöglicht. Indem man den analogen Spielraum hin zum digitalen Möglichkeitsraum inklusive des längst selbst von analogen Akustikfans ersehnten Sounddesigns erweitert und den Menschen hilft, auf ihrem Weg zu neuen Erfahrungen Hindernisse zu überwinden, leistet man einen wesentlichen Beitrag zur Gestaltungskompetenz zukünftiger Erlebensräume. Geht nicht, gibt es nicht. Das zeigen zum einen die aktuellen Entwicklungen rund um das Hybrid-Piano sowie all die genialen Erfindungen vor allem von Tasteninstrumenten der vergangenen Jahrhunderte. Der zu unseren Zielen passende Kammerton wird Teil des ganzheitlichen Werkzeugkastens zur Entwicklung unserer Gestaltungsfähigkeit.

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