Traditionell stimmte man ein Klavier nach Gehör. Mittlerweile setzen vielen Klavierstimmer ein elektronisches Stimmgerät ein. Das ist aus der Sicht der Klavierspieler durchaus nachvollziehbar. Im Gegensatz zu den Gehörstimmern haben viele Menschen heute schon mehr Vertrauen zu den scheinbar objektiven Leistungen einer Maschine als zu den sicher subjektiven Leistungsschwankungen des Menschen. Die Gehörstimmer argumentieren, dass die Stimmung mit einem Stimmgerät nicht so gut wäre, wie nach Gehör. Trifft das tatsächlich zu? Oder ist das lediglich eine Fortsetzung der Diskussion, die einst stattgefunden hat, als man den Kompromiss der Gleichtemperieren Stimmung einführen wollte, der aus der Tatsache heraus entstand, dass man die Tonhöhen der Tasteninstrumente im Moment des Musizierens nicht differenzierter als lediglich in Halbtonschritten gestalten kann? Dieser Stimmung standen nämlich einst die Vielfalt und Einmaligkeit der Wohltemperierten Stimmungen und somit gute Gegenargumente gegenüber. Wie wir heute wissen, konnte sich die Gleichtemperierte Stimmung durchsetzen. Vielleicht ist dieser Fortschritt ein Indiz dafür, dass der Abbau von Qualität in der Musik eine längere Vorgeschichte hat. Denn seltsamerweise neigen wir Menschen häufig dazu, Entweder-oder-Entscheidungen herbeizuführen, anstatt Sowohl-als-auch-Alternativen zuzulassen.
Ist die Maschine dem Menschen überlegen?
Anfangs waren die Stimmgeräte noch nicht so intelligent, die Daten des jeweiligen Instruments (konkret die Inharmonizität der Saiten) zu erfassen und daraus entsprechende Berechnungen für eine individuell angepasste Stimmung (konkret die Spreizung) anzustellen. Diesbezüglich haben die Entwickler inzwischen schon nachgelegt. Derartig leistungsfähige Stimmgeräte sind längst auf dem Markt. Trotzdem ist die Kontrolle nach Gehör sinnvoll. Denn zum Beispiel können die Stimmgeräte noch nicht die Differenzen erfassen, die sich aus der jeweiligen Mensur der Pianos ergeben, also der verwendeten Saitenstärken und Saitenlägen für den jeweiligen Ton. Stimmt man ein Klavier mit falsch berechneter Mensur sauber nach einem leistungsfähigen Stimmgerät, klingt das Klavier falsch. In diesem Fall muss man als Stimmer nach Gehör korrigieren können. Typische Probleme bei der Berechnung der Saitenstärken findet man
Von derartigen Problemen bei Klavieren lesen Sie in in meiner Beschreibung des Hörbeispiels eines Klaviers der längst nicht mehr produzierenden Firma Willis. Ohne die Kontrollen des Gehörs beim Stimmen kann der Stimmer über das Endergebnis nur sagen, dass er auch nicht weiß, wie es zustande gekommen ist, und er hinsichtlich der Verantwortung auf die Maschine, deren Hersteller und Programmierer verweisen muss. Man würde damit das Thema der Stimmung der Instrumente an möglicherweise musikferne Techniker abgeben. Der Einfluss der Musiker auf die Stimmung als ein wesentliches Element der musikalischen Botschaft würde noch weiter sinken. Aber das Gegenteil ist wünschenswert, nämlich auch die Klavierspieler mit dem Maximum an musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten auszurüsten, wie Sie in meinem Blog Pianomotions lesen können.
Worum geht es eigentlich beim Klavierstimmen?
Wenn also die Befähigung zum Stimmen nach Gehör wünschenswert ist, dann stellt sich die Frage, wie man eigentlich nach Gehör stimmt? Worauf hört ein Klavierstimmer? Woran orientiert er sich? Mit welchen auditiven und kognitiven Strategien strukturiert er das Chaos aus über 200 Einzelsaiten verteilt auf 88 Töne und somit einen Tonraum von über 7 Oktaven? Ist das in dem Zusammenhang immer wieder erwähnte absolute Gehör eine unverzichtbare Voraussetzung?
Welche Struktur hat so ein Stimmsystem?
Heute ist das Ziel des Stimmens das Gleichtemperierte oder auch Gleichschwebende Stimmungssystem. Es ermöglicht den freien Wechsel der Tonarten, da die Tonarten in dieser Stimmung außer in der Tonhöhe identisch sind. Das heißt, im Ergebnis sollen die einzelnen Intervalle, also z.B. alle Dur-Terzen in allen Tonarten gleichartig schweben. Die Stimmkunst besteht hinsichtlich der so genannten Temperatur dieses Stimmungssystems darin, das Pythagoreische Komma innerhalb der Referenzoktave möglichst gleichmäßig auf jeden Halbtonschritt aufzuteilen.
Sind Menschen mit einem absoluten Gehör Supertalente?
Grundsätzlich gibt es gar kein absolutes Gehör, da auch kein absoluter Kammerton existiert. Der Kammerton lag zu Lebzeiten Johann Sebastian Bachs in Deutschland um einen halben Ton tiefer als heute üblich bei 415 Hertz, in Frankreich noch einmal um einen halben Ton tiefer, wohingegen er in z.B. Italien deutlich über 440 Hertz lag. Um 1900 pendelte man sich auf 435 Hertz ein, wobei viele Musiker und Komponisten bis heute der Ansicht sind, dass Musik auf der Basis von 432 Hertz mehr Harmonie verbreiten würde. 1939 entschied man sich international für 440 Hertz als Norm. Doch schon lange finden klassische Konzerte wegen der damit erhofften höheren Brillanz des Klangs auf 442-443 Hertz, neuerdings sogar schon auf 445-446 Hertz statt. Wenn aber der Kammerton als Grundlage für ein gemeinsames Musizieren offensichtlich frei wählbar ist, kann es kein absolutes Gehör geben. Es handelt sich demnach immer um ein relatives Gehör, das auf eine bestimmte Tonhöhe hin trainiert worden ist. Und wie hoch ist die Leistung des hinsichtlich der Tonhöhenerkennung trainierten Gehörs einzuschätzen?
Welche Feinheiten können Menschen hörend unterscheiden?
Das Hören von Schwebungen ist lernbar. Sänger, Streicher und Bläser haben im Gegensatz von Klavierspielern dafür bereits ein geschultes Ohr, da sie sich ja ständig darin üben, Tonhöhen fein abzustimmen. Aufgrund meiner Erfahrungen mit dem von Praeludio® angebotenen Praktikum Selberstimmen stelle ich fest: Das so genannte absolute Gehör ist zum Stimmen zu ungenau. Denn es beschränkt sich ja lediglich auf die Zuordnung und das Erkennen von bestimmten Tönen und somit eine Differenzierung von Halbtönen. Um die Feinheiten einer Gleichtemperierten Stimmung einstellen zu können, lernen Klavierstimmer, sich auf eine Besonderheit zu fokussieren. Beim Stimmen hört man auf die Schwebungen, die zwischen zwei Saiten innerhalb eines Tons bzw. zwischen zwei Tönen und somit innerhalb eines Intervalls entstehen. Schwebungen sind ein akustisches Phänomen. Es besteht in einem An- und Abschwellen der Lautstärke, das man wie eine Schwingung wahrnimmt. Je nach Abstand zur Reinheit des Tons bzw. Intervalls sind die Schwebungen schneller oder langsamer. Bei reinen Intervallen und Tönen besteht keine Schwebung mehr.
Ist die Gleichtemperierte Stimmung das perfekte Stimmsystem?
Die Kernleistung eines Gehörstimmers besteht darin, über den Quintenzirkel die Referenzoktave in der Mittellage in Halbtonschritte einzuteilen. Dabei bedient er sich sowohl konsonanter als auch dissonanter Intervalle. Konsonante Intervalle sind Oktaven, Quinten und Quarten. Dissonante Intervalle sind Terzen und Sexten. Dazu muss der Klavierstimmer lernen zu hören, wie schnell welche Intervalle schweben dürfen. Denn die meisten Intervalle einer Gleichtemperierten Klavierstimmung schweben aufgrund der Besonderheit des Pythagoreischen Kommas, das besagt, dass es keine reinen Stimmungen für Instrumente mit festgelegten Tonschritten geben kann. Reine Intervalle sind bei Sängern, Bläsern und Streichern jeweils eine individuelle Leistung des Musikers, der nämlich die Intervalle entsprechend intoniert. Da jedoch die Tasteninstrumente (noch) nicht intonieren können, werden schwebende Intervalle auf der Grundlage der so genannten Dissonanz-Toleranz akzeptiert, die sich zufällig zur Zeit von Johann Sebastian Bach soweit gesteigert hat, dass die damals neuen Wohltemperierten Stimmungen in der Breite angenommen worden sind.
Die Entwicklung des Pianos wurde schon relativ früh weniger vom Streben nach dem bestmöglichen Musikwerkzeug sondern von der Gewinnsucht bestimmt. Die Klavierhändler kamen auf die Idee, für ihr Produkt zu werben, indem sie Klavierkonzerte anboten. Aufgrund der steigenden Nachfrage nach derartigen Veranstaltungen brauchte man größere Konzerthallen. Folglich musste das Pianoforte lauter werden. Die Lautstärke erhöhte jedoch die Zug- und Druckkräfte im Instrument, die einen flexiblen Umgang mit der Gestaltung von Tonhöhen z.B. im Rahmen der Intonation dauerhaft ausgeschlossen haben. Aus diesem Grund konnte sich ein Stimmungssystem durchsetzen, dass hinsichtlich der Gestaltung des musikalischen Ausdrucks lediglich ein Kompromiss war: Die Gleichtemperierte Stimmung. Dieses Stimmungssystem stellt hohe Anforderungen an Präzision der Stimmer. Die äußerst genaue Gleichtemperierte Stimmung war lange Zeit aufgrund der in der Produktion eingesetzten Materialien sowie der Stimmtechnik nicht so exakt wie nötig reproduzierbar.
Anmerkung: Unter dem Stimmungssystem verstehe ich eine Grundlage. Auf dieser Basis gestalten Musiker den Ausdruck. Über die Musik wird eine Intention transportiert, die in uns Emotionen anspricht und auslöst. Um diesen musikalischen Kontext so empathisch wie möglich gestalten zu können, bedienen sich Musiker unter anderem mit der Intonation der Tonhöhen einer individuellen Verfeinerung der Stimmung, indem sie über die Intonation die in den Intervallen enthaltene Spannung entsprechend der Intention verstärken können. Wenn aber die gesamte Gruppe der (akustischen) Tasteninstrumente zu diesem Ausdrucksmittel nicht in der Lage ist, schränkt dieser Mangel die Tastenspieler in ihren Möglichkeiten zur Gestaltung des musikalischen Ausdrucks erheblich ein.
Sind alle Pianos gleich gut zu stimmen?
Das Hören und zweifelsfreie Zuordnen von Schwebungen als Basis des Gehörstimmens wird zum einen durch Saiten erschwert, die in sich unrein sind. Das ist kein Sonderfall sondern betrifft vor allem Klaviere aus der deutschen Produktion zu einem sehr hohen Prozentsatz. Das ist für den Klavierstimmer eine unerfreuliche Geschichte, da es schon seit langem Pure-Sound-Saiten ohne so genannte Nebenschwebungen gibt, die jedoch hauptsächlich in Asien und USA eingesetzt werden. Da die Masse der heute existierenden Klaviere in Europa aber aus der deutschen Produktion stammen, gehören Nebenschwebungen zum Standard der meisten Pianos.
Werden Klaviere in schalldichten Räumen gestimmt?
Ferner wird das Stimmen erschwert durch die Nebengeräusche des Alltags. Zwei Sonderfälle habe ich nachfolgend als Hörbeispiel dokumentiert. Einmal stimme ich in einer Souterrain-Wohnung ein Klavier in knapp 2 Stunden um 20 Hertz höher, während über mir mit dem Presslufthammer gearbeitet wurde. Wie kann man sich bei derartig massiven Störungen noch auf die Feinheiten von Schwebungen beim Klavierstimmen konzentrieren?
Verstimmung 417 Hertz Klavierstimmer gegen Presslufthammer primaTEK© Endstimmung 437 HertzIn dem anderen Hörbeispiel begleiteten mich beim Stimmen zwei Käfigvögel mit ihrem lebhaften Gezwitscher:
Vogelgezwitscher beim StimmenWie kann man sich in Grenzsituation helfen?
Nun zum einen arbeite ich mit der von mir entwickelten Hybrid-Stimmtechnik. Das heißt, ich stimme sowohl nach Gehör als auch unter Verwendung der visuellen Anzeige eines Klavierstimmgeräts, also mit Auge und Ohr. Aber selbst ein Frequenzmessgerät wird natürlich von den Umgebungsgeräuschen beeinflusst. Daher muss der Stimmer versuchen, die Nebengeräusche hörend zu filtern.
Ist das menschliche Ohr doch dem Stimmgerät überlegen?
Säugetiere verfügen laut Professor Stephen Porges (Die Polyvagale Theorie, S. 222, zweiter Absatz) im Gegensatz zu Reptilien über
Gemeinsam mit den Mittelohren sind die Gehörknöchelchen hervorzuheben. Es handelt sich um kleinste Knochen, die sich vom Unterkiefer abgelöst haben. Sie spielen eine wesentliche Rolle, wenn es um das Filtern von Nebengeräuschen beim Hören geht. Die Filter werden aktiviert, indem die Muskeln des Mittelohrs innerviert werden und darüber die Gehörknöchelchenkette fixiert wird. Konkret handelt es sich um den Musculus tensor tympani (Trommelfellspanner) sowie um den Musculus stapedius (Steigbügelmuskel). Im Zusammenspiel dieser beiden Mittelohrmuskeln entstehen Filter. Zum Beispiel kann ein Tiefpassfilter höhere Töne dämmen.
Im Zusammenhang mit dem Tiefpassfilter fand Stephen Porges im Rahmen der Polyvagalen Theorie heraus, dass eine Wirkung auch in umgekehrter Richtung ausgelöst werden kann. So wirkt das Hören von tiefenbetonter Musik auf die Muskeln des Mittelohrs entspannend. Die Entspannung des Trommelfells führt dazu, dass die tieferen Töne besser wahrgenommen werden können. Im Nebeneffekt wirkt tiefenbetonte Musik über die spannungsreduzierende Wirkung der Muskeln des Mittelohrs auf den Menschen harmonisierend und ist somit eine weitere Erklärung dafür, warum so viele Menschen am Klavier die Selbstharmonisierung über den grundtönigen Pianoklang nicht nur suchen, sondern auch finden.
Alternativ verfügt das menschliche Ohr auch über einen Hochpassfilter, der wiederum die tieferen Töne dämpft. Dieser Filter fördert das Sprachverständnis. Die Funktion des Hochpassfilters wird über den Steigbügelmuskel aktiviert.
Den Steigbügelmuskel kennen Sie vielleicht schon vom so genannten Stapediusreflex, der dazu dient, um unser Gehör vor zu großer Lautstärke zu schützen. Interessant für die Freunde der leisen Töne: Der Sinn der
besteht darin, die über die Luft empfangenen ziemlich leisen Geräusche zu verstärken. Dabei würde aber auch die eigene Stimme verstärkt. Daher ist die Hauptaufgabe des Stapediusreflexes, die Lautstärke der eigenen Stimme zu reduzieren.
Der Nebeneffekt der muskulären Aktivierung der Mittelohrmuskeln im Zusammenhang mit einem Hochpassfilter ist eine erhöhte Wachheit. Auf dem über die Musik entsprechend gestalteten Wechsel zwischen diesen beiden Zuständen basiert die Musikalische Klangwippe der Hörtherapie von Tomatis. Interessierte können das Thema der Funktion von Hörfiltern in dem Buch Die Polyvagale Theorie von Stephen Porges und hier vor allem im Kapitel 10 ab Seite 213 bis 224 vertiefen.
Auf die Wirkung des Pianoklangs bezogen kann man daher zusammenfassend feststellen:
In dem folgenden Video wird der Aufbau des menschlichen Ohrs sowie die Verarbeitung von Schallwellen im Gehirn anschaulich dargestellt. Bei Minute 2:45 erfährt man, dass sowohl akustische als auch optische Informationen in den Colliculi inforeriores verarbeitet werden. Zu dieser interessanten Kombination unterschiedlicher Informationskategorien und den sich daraus ergebenden Emergenz-Effekten biete ich Ihnen im Kapitel Emergenz-Effekt durch das Stimmen mit Augen und Ohren konkrete Hinweise hinsichtlich der von mir entwickelten Hybrid-Stimmtechnik primaTEK©. Weitere Erläuterungen zur Verarbeitung von multimodalen Informationen finden Sie im Lexikon der Naturwissenschaft unter Colliculi superiores.
Hören wir unter Stress noch Feinheiten?
Die physiologischen Mechanismen des Filterns beim Hören funktionieren jedoch nur ohne Stress. Denn das Filtern hat sich entwickelt, damit wir uns mit unseren Artgenossen trotz Umgebungsgeräuschen verständigen können, sowie um uns unbemerkt von unseren damaligen natürlichen Feinden vokal austauschen zu können. Mit diesem Vorgang verbunden sind eine Reihe weiterer Fähigkeiten, die in dem System des sozialen Engagements zusammengefasst werden und die einen ganzen Komplex an Fähigkeiten darstellen, die wesentlich dafür verantwortlich sein sollen, warum sich der Mensch aus der Sicht der Evolution in vergleichsweise kurzer Zeit so gravierend entwickeln konnte. Dieses bislang unerklärte Wunder der Natur könnte im Zusammenhang mit dem Bindungshormon Oxytocin stehen, dessen umfassende und vielfältige Wirkungen auf das Lernen und somit die Entwicklung aber auch auf die Gesundheit des Menschen von der Wissenschaft aktuell entdeckt werden (siehe Stichwortverzeichnis).
Der Austausch mit Artgenossen setzt voraus, dass wir uns in keiner bedrohlichen Situation befinden. Die Bedrohung würde die aus Sicht der Evolution älteren Stress-Mechanismen aktivieren und gleichzeitig das neuere System sozialen Engagements außer Kraft setzen. Anstelle einer Verbesserung des Einfühlungsvermögens würde die Herzfrequenz gesteigert und die Atmung intensiviert, damit wir schnellstmöglich über ausreichend Energie verfügen, um uns aus der bedrohlichen Situation befreien zu können.
In dem folgenden Video erleben Sie Professor Stephen Porges in einem Kurzvortrag über die Polyvagale Theorie und hier insbesondere über die alten Mechanismen der Stress-Verarbeitung und das stammesgeschichtlich neue System sozialen Engagements:
Lassen sich die Filter beim Hören trainieren?
Nun ist es so, dass alleine die Zumutung, unter derartigen Bedingungen ein Klavier zu stimmen, ein Ärgernis ist, das Stress auslöst. Im Fall der Störung durch den Presslufthammer ging es nicht nur darum, ein Klavier zu stimmen, sondern das Instrument sollte zusätzlich um 20 Hertz höher gestimmt werden. Darüber hinaus sollte ich noch bis zu einer bestimmten Uhrzeit damit fertig sein. Wie kann man den Disstress vermeiden, der die Lösung der Aufgabe unmöglich machen würde? Indem man die Situation als Herausforderung interpretiert und sich ihr aufgrund der Erfahrung stellt, dass man früher schon ähnliche Situationen erfolgreich bewältigen konnte. Das heißt aber, dass man bereits in vergleichbaren Situationen den Einsatz von Filtern beim Hören sowie das Ändern der Einstellung gegenüber Stress-auslösenden Situationen üben konnte.
Diese Fähigkeiten konnte ich über 10 Jahre in dem wohl größten Klavierlager Europas intensiv üben. Denn die Stimmkabinen waren in den riesigen Lagerhallen wohlweislich hinten angelegt worden, also auf der Gegenseite zum Hof der Spedition, auf der die Lastkraftwagen ein- und ausfuhren, um die Pianos und andere Güter zu laden und entladen. Bei der Planung hatte man übersehen, dass an der Rückseite der Lagerhallen eine der meist befahrenden Nord-Süd-Verbindungen Deutschlands für Güterzüge verlief. Störungen waren für mich somit kein Sonderfall, sondern der täglich x-fache Normalfall und somit beste Bedingungen, um diese besonderen Fähigkeiten eines Stimmers trainieren zu können.
Gibt es nichtlineare Aspekte der Hybridstimmtechnik?
Wie ich oben kurz angedeutet habe, optimiert die Aktivierung des Systems des sozialen Engagements die Fähigkeit, Informationen auszutauschen und zu verarbeiten. So verbessert sich zum Beispiel unser Verständnis der akustischen Informationen des Gegenübers, wenn wir ihn nicht nur hören können, sondern seine Mimik und Gestik sehen. Die visuellen Zusatzinformationen stimulieren unser Einfühlungsvermögen und ermöglichen quasi einen Emergenz-Effekt innerhalb der Kommunikation. Etwas ähnliches geschieht beim Stimmen, wenn man die Töne nicht nur hört, sondern über eine visuelle Anzeige des Frequenzmessgeräts zusätzliche Informationen angeboten bekommt. Auch in diesem Fall verbessert sich das Hören durch den Emergenz-Effekt des Sehens. Das sind quasi nichtlineare Eigenschaften der kognitiven Verarbeitung von Informationen beim Sonderfall des Klavierstimmens, die man nur entdecken kann, wenn man sich diesen Möglichkeiten in einem größeren Umfang sowie über längere Zeit aussetzt und darüber hinaus idealerweise die Gelegenheit hatte, auch die andere Seite der Medaille ausreichend lange kennen zu lernen. Diese Bedingungen erfülle ich rein zufällig aufgrund meines persönlichen Werdegangs: